Mir träumte
Ein Traumtagebuch führe ich nicht. Nur sporadisch halte ich das Geträumte direkt nach dem Aufwachen schriftlich fest. Wenn ich besonders fasziniert von der Intensität oder amüsiert über die Absurdität bin.
Manchmal empfinde ich echte Trauer darüber, schon aufgewacht zu sein, so gerne wäre ich noch länger im süßen Traum geblieben.
Ich widerstehe jedoch dem Drang, alles deuten zu müssen, was in der Nacht so in meinem Bewusstsein aufgeführt wird, was ich schlafend alles erlebe.
Der Rekorder nimmt schließlich ständig auf, und der Bildschirm spielt allerlei Zeug ab. Deutlich mehr, als man memorieren kann.
Manche Träume, oder besser: deren Essenz oder Motiv, bleiben auch nach Jahren oder sogar Jahrzehnten in Erinnerung.
Beispielsweise träumte ich als Kind, beim Betreten meines Zimmers ein kleines Mädchen dabei zu überraschen, wie es in meiner Spielzeugkiste wühlte. Ich glaubte eine ganze Weile, es habe sich um das leibhaftige Christkind gehandelt, und der Traum wäre überhaupt kein solcher gewesen.
Träumt man als Kind eigentlich wirklich anders? Nur weil die Welt noch recht neu für einen ist — und ihre wahren Schrecken einem noch nicht vollumfänglich bewusst sind?
Damals war ich zumindest auch Kind in meinen Träumen. Als Erwachsener bin ich ein Erwachsener dort. Ein Erwachsener, der allerdings die offenkundig fehlende Logik und unübersehbare Seltsamkeit, die er im Traum vorfindet, automatisch als normal akzeptiert, als Wirklichkeit. Was ihn dann nur noch wenig vom Kind unterscheidet.
Als Träumender wundert man sich zwar, doch die geträumten Szenen stellt man selten komplett in Frage.
Besorgniserregend viele Albträume musste ich in meiner Kindheit zum Glück nicht durchleiden. Auch vom berüchtigten Angsttraum, zu spät zur Mathearbeit zu erscheinen oder die darin gestellten Aufgaben zeitlich nicht lösen zu können, blieb ich verschont. Und das, obwohl ich stets total schlecht in Mathe war.
Als junger Erwachsener hatte ich während des exzessiven Dorffests jahrelang den gleichen Traum gehabt: Ich lag im Bett oder auf einer Liege mitten im Festsaal, während um mich herum die Musik spielte und alle feierten. Mir aber gelang es nicht, mich aufrecht hinzusetzen.
Später, ich lebte längst in Berlin, träumte ich mal, dass ich nur ein, wenn auch sehr großes Nasenloch hatte. Ich konnte die ganze Hand hineinstecken und mir bis ins Hirn fassen.
Ein anderes Mal, es ist ebenfalls schon einige Jahre her, erklärte im Traum jemand mit einer entsetzlich trostlosen Stimme, es gäbe Krieg. Noch nach dem Aufwachen saß mir die Furcht über die Endgültigkeit der Worte in den Knochen. Ich war tief erschüttert gewesen und denke heute wieder öfters an diesen Traum.
Nun möchte ich ein paar noch sehr junge Träume beschreiben, die ich mir notiert hatte:
Ich sitze mit dem Freund im Zug. Die Schaffnerin taucht auf. Ich frage, ob meine Studentenkarte auch auf dieser Strecke gilt. Sie will das nachschauen und verschwindet, kommt aber vor unserem Zielbahnhof nicht wieder. Wir schauen aus dem Zugfenster und bewundern das Rheinpanorama.
In der Stadt angekommen, will ich eine Buchhandlung aufsuchen und verliere dabei den Freund aus den Augen.
Später laufe ich an Zelten von Obdachlosen vorbei, die den Gehweg säumen und sich auch auf einem dahinterliegenden Stück Wiese befinden, das eingezäunt ist. Ich schaffe es, über einen Metallzaun zu klettern und gehe an den Rückseiten der Zelte entlang. Ich treffe auf ein paar Jugendliche.
Als ich wieder über den Zaun klettern will, gelingt es nicht. Ich suche immer weiter nach einer geeigneten Stelle, an der ich ihn überwinden kann, doch ich finde keine. Die Jugendlichen sind nun hinter mir und beginnen, mich auszulachen.
Es scheint eine große Party im Elternhaus zu sein. Der Hof ist voller Gäste, darunter mir bekannte Gesichter. Ich begrüße weitere Menschen im Keller und rede dort länger mit der Mutter einer Freundin. Als ich wieder nach oben komme, ist der Hof leer, weil es geregnet hat. Nur drinnen lungern noch Leute vor Bierkisten herum. »Ausgerechnet jetzt muss es regnen«, klage ich betrübt und frage, ob noch etwas zu trinken da ist.
Mit einer Bekannten bin ich zu Besuch bei einem alten Schriftsteller. Als er mir seine Bücher hinlegt, als Geschenk, überfordert mich die Situation. Ich will ihm zwar auch Exemplare meiner Werke schenken, doch vorhin hatte ich der Bekannten welche verkauft, nicht geschenkt.
Und dann ist T. plötzlich wieder da. Sie sitzt im Wohnzimmer meiner Familie. So wie früher. Als sei sie nie weggewesen. Die Familie weiß nicht so recht, wie sie mit ihr umgehen soll. Ich aber bin überglücklich, T. endlich wiederzuhaben.
Sie bittet mich, ihr ein bestimmtes Shirt zu holen. Jenes, was sie früher so gerne daheim getragen habe. Im Nebenzimmer durchforste ich alte Videos von uns, da ich nicht mehr weiß, wie das Shirt ausgesehen hat. Dabei vergeht viel zu viel Zeit. Ich bekomme Angst, dass T. wieder weg ist, wenn ich ins Wohnzimmer zurückkehre.
Der berühmte DJ wird zum Interview erwartet. Meine Schwester hat die Stühle und Hocker auf den Tisch gestellt, als wolle sie putzen. Ich nehme sie wieder herunter.
Draußen auf der Terrasse treffen der DJ und sein Begleiter ein. Ich begrüße ihn, dabei abcheckend, ob er weiß, dass ich vor einiger Zeit sehr schlecht über ihn geschrieben habe. Früher mochte ich ihn, heute sehe ich ihn kritisch und kann auch mit seinen Sets und Produktionen nichts mehr anfangen.
Er scheint nichts davon zu ahnen. Und ich verfalle wieder seinem Charme. Ich gebe an, dass ich schon lange Musikjournalist sei und früher auch Vollzeit in der Redaktion gearbeitet habe. Dann, wohl um zu beweisen, wie gut ich mich mit seinem Leben und Werk auskenne, weise ich auf bestimmte Aspekte und Stationen hin.
Als ich auf eines der früheren Alben des DJs zu sprechen komme, scheint er sich überhaupt nicht mehr an dieses erinnern zu können. Ich nenne bestimmte Titel, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Und zitiere, was JL über sein Aussehen im Video zur Single gesagt hat, im ersten Interview nach der großen Frontpage-Pleite.
Dann fahren wir zu einem Haus. Der DJ zeigt mir durch schmale, schachtähnliche Fenster das Archiv, in dem alle Artikel und Erwähnungen, die weltweit über ihn publiziert wurden, gelagert sind. Ich kann nicht viel erkennen, es ist zu dunkel hinter den Scheiben.
Der DJ erzählt, dass er und seine Begleiter kürzlich ein Taxi hätten verlassen müssen, weil der Fahrer das N-Wort wiederholt von sich gegeben habe.
Ich berichte von der Karnevalsveranstaltung im Dorf, auf deren rassistischen Namen manche Bürger lange nicht hatten verzichten wollen.

