Puzzleteile
Ich habe das Gefühl, dass die Erwachsenen mir nicht die ganze Wahrheit sagen. Sie scheinen mir etwas vorzuenthalten. Sie hindern mich daran, klarzusehen.
Vieles ist überhaupt nicht sichtbar, anderes zu verschwommen. Das, was ich erkenne, kann nur ein kleiner Ausschnitt eines viel größeren Bildes sein.
Ich behelfe mir mit Mutmaßungen. Ich reime mir bestimmte Dinge zusammen. So bekomme ich eine leichte Ahnung. Ich hege einen Verdacht. Dennoch weiß ich weiterhin viel zu wenig, um befriedigende Schlüsse ziehen zu können.
Es will mir nicht gelingen, zu ergründen, was mit den Erwachsenen, was mit meinen Eltern los ist. Auf meine Fragen reagieren sie gereizt. Sie blocken ab.
»Wie kommst du denn da drauf?», fragen sie zurück, mit einem Unterton, der die Dummheit meiner Frage aufzeigen soll.
»Das verstehst du noch nicht«, behaupten sie und machen damit klar, dass weitere Nachfragen nicht erwünscht sind.
»Das verstehst du erst, wenn du älter bist«, vertrösten sie mich, ohne ein genaues Alter anzuführen.
Wenn ich trotzdem nachbohre, lügen sie mir etwas vor. Und sie geben sich nicht einmal große Mühe damit. Halten sie mich wirklich für so naiv? Merken sie denn nicht, dass ich älter geworden bin?
Früher habe ich ihnen noch geglaubt. Weil ein Kind den Erwachsenen erst einmal alles glaubt. Es vertraut ja darauf, dass sie die Wahrheit sagen.
Ein Kind lernt ja auch, Enttäuschungen zu akzeptieren. Etwa, wenn die Antworten der Erwachsenen deshalb nicht stimmen, weil sie selbst nicht über ein ausreichendes Wissen verfügen.
Erst wenn sich die bittere Erkenntnis einstellt, immer wieder mit Absicht belogen worden zu sein, entwickelt das Kind Misstrauen. Es beginnt, alle Antworten und Aussagen der Erwachsenen in Zweifel zu ziehen. Und stellt das Vertrauensverhältnis grundsätzlich infrage.
Ich rede nicht von einer kindergerechten Darstellung der Welt, mit den einfallsreichen Verharmlosungen, Auslassungen und Schwindeleien, die Eltern zum Wohle der Kinder so betreiben.
Ich meine ganz andere Lügen und ein ganz anderes Verschweigen.
Es geht um Tatsachen, deren Kenntnis mir bewusst verwehrt wird. Tatsachen, die ich, so bin ich überzeugt, aber kennen muss, um die Welt zu verstehen. Um zu verstehen, wie die Erwachsenen wirklich sind. Und warum sie so sind.
Mein einst so felsenfestes Vertrauen in meine Eltern bröckelt nun schon seit geraumer Zeit.
Das, was ich aufgeschnappt habe und ihnen entlocken konnte, schiebe ich wie Puzzleteile hin und her. Doch sie passen nicht zusammen.
Die Erwachsenen erzählen gerne Geschichten. Doch welche davon sind wahre Geschichten? Welche haben sie sich nur ausgedacht, um mich zu unterhalten, zu begeistern, zu beeindrucken – oder um mich aus Erziehungsgründen zu ängstigen? Was sind Informationen, was ist der Fantasie entsprungen?
Und was sind unverzeihliche Lügen?
Ich gebe zu, ich bin noch immer anfällig für manche geheimnisvolle Erzählung. Ich lasse diese dann in meinem Verstand herumwandern und meine Träume bevölkern. Ich grübel, ich staune, ich amüsiere und fürchte mich.
Die Eltern haben das Steuer noch fest in der Hand und lenken mich in die Richtung, die sie für richtig halten. Ich bin abhängig von ihnen. Und sie haben die Macht, mir etwas vorenthalten zu können.
Doch ich möchte mich nicht mehr länger damit abfinden.
Immer häufiger schleiche ich mich spätabends die Treppe hinunter. Ich weiß, welche Stellen knarzen und dass das Geländer ächzt.
Ganz leise hocke ich mich auf eine der unteren Stufen und versuche, zu erlauschen, was die Eltern im Wohnzimmer oder in der Küche besprechen.
Manchmal kommt auch meine Schwester die Treppe hinuntergeschlichen. Ich rieche ihr Parfüm schon, bevor ihr Fuß die oberste Stufe berührt hat.
Wenn ich mich zu ihr umdrehe, führt sie einen Finger an die Lippen. Und ich führe dann auch einen Finger an die Lippen.
Die Handtasche an sich gepresst schleicht sie an mir vorbei, huscht aus dem Haus, die Haustür leise hinter sich zuziehend.
Ich frage sie nicht, wo sie hingeht. Sie fragt mich nicht, warum ich auf der Treppe sitze, obwohl ich doch schon längst schlafen sollte.
Ich sitze da und spitze die Ohren. Ich lerne dabei, mich nicht nur auf die Stimmen der Eltern zu konzentrieren, sondern auch auf die Geräusche zu achten, die sie machen. Bloß nicht unaufmerksam werden und die Gedanken abschweifen lassen!
Wenn das Scharren von Stuhlbeinen oder sich nähernde Schritte zu hören sind, muss ich meinen Lauschposten schleunigst aufgeben.
Viel erfahre ich leider immer noch nicht. An den meisten Abenden sprechen die Erwachsenen nur über belanglose Dinge. Solche Gespräche führen sie auch tagsüber. In meiner Anwesenheit.
Abends wirken die Sätze aber erstaunlich leer und austauschbar. Sie scheinen sie nur auszusprechen, um überhaupt etwas zu sagen und nicht nur schweigen zu müssen. Die Sätze besitzen keinerlei Neuigkeitswert.
Wenn Mutter und Vater schweigen, stelle ich mir vor, wie sich anschauen, wie sie vielleicht über die Augen miteinander kommunizieren. Oder wie sich ihre Blicke immerzu ausweichen, weil jeder zu sehr mit sich beschäftigt ist.
Wenn sie schweigen, vernehme ich irgendwann das Kratzen des Kugelschreibers auf Papier und das Rascheln von Zeitungsseiten. Mutter macht dann Eintragungen ins Haushaltsbuch oder schreibt den Einkaufszettel. Vater liest.
Dann brauche ich besonders viel Geduld.
Erst wenn die Eltern schon ein paar Gläser getrunken haben, gelingt es ihnen manchmal, eine richtige Konversation aufrechtzuerhalten. Dann füllen sich die Gespräche mit Inhalten. Ihre Stimmen klingen dann emotionaler. Doch ich verstehe trotzdem nicht, worum es geht.
Einmal sagt Mutter: »Ich kann es ihnen einfach nicht verzeihen. Und ich kann es nicht vergessen. Wenn sie es wenigstens anerkennen würden.«
Einmal sagt Vater: »Die tun so, als sei alles wieder gut. Die lachen uns doch ins Gesicht.«
Ein anderes Mal herrscht er Mutter an: »Davon will ich jetzt nichts hören.«
Ein anderes Mal fordert Mutter: »Lass uns bitte das Thema wechseln. Ich verkrafte das jetzt nicht.«
An fast jedem Abend werden mehrere Flaschen entkorkt. Doch nie prosten die Eltern sich zu. Dabei prosten sich Erwachsene doch eigentlich immer zu, wenn sie zusammen etwas trinken.
Ganz selten machen die Eltern Musik an. Wenn sie es tun, singen oder summen sie die Lieder sogar ab und zu mit und lachen dann herzhaft darüber. Die Musik macht sie fröhlich.
Und ich freue mich für sie, denn sonst sind meine Eltern nie fröhlich. Immer sind sie ganz ernst. An manchen Tagen sind ihre Gesichter so versteinert wie die der Figuren an der Kirche. Früher habe ich sogar geglaubt, meine Eltern könnten gar nicht lachen.
Während die Musik läuft, fragt Mutter einmal: »Weißt du noch?«
Und Vater antwortet: »Natürlich weiß ich noch.«
Und wieder lachen sie.
Dann meint Mutter: »Was wohl aus dem geworden ist?«
Da klingt sie schon nicht mehr so fröhlich. Auch Vater nicht, dessen Antwort von der Musik übertönt wird.
Mehrere Male werde ich Ohrenzeuge, wie Mutter lange weint, und ich muss den Drang, aufzuspringen und ins Zimmer zu laufen, um sie zu trösten, unterdrücken.
Einmal höre ich sogar Vater schluchzen. Vater, der mich, wenn ich weine, immer anherrscht, ich solle mich mal endlich zusammenreißen und nicht so heulen.
Sein Schluchzen versetzt mir einen besonders tiefen Stich. Weil es nicht zu ihm passt. Es passt noch nicht zu ihm, korrigiere ich mich, so wie die Puzzleteile noch nicht passen.
»Lass es ruhig raus«, sagt Mutter drinnen mit sanfter Stimme. So wie sie es auch manchmal zu mir meint. Streicht sie dabei auch über seinen Rücken? Ich habe sie jedoch nicht aufstehen gehört.
Ich sitze auf der Treppenstufe und wage es nicht, zu atmen. Dabei verkrampfe ich so, dass mir später beim Aufstehen Nacken und Beine wehtun.
Nur selten kommt abends jemand zu Besuch. Meine Eltern haben nicht viele Freunde.
Als ein Arbeitskollege von Vater drinnen mit am Tisch sitzt, höre ich, wie Mutter schimpft: »Du belügst dich doch selbst. Ihr belügt euch doch alle selbst!«
Sogleich redet Vater auf sie ein. Und sein Kollege hüstelt verlegen. Und murmelt dann etwas, was ich nicht verstehe.
Als Vater versichert: »Sie meint es nicht so«, regt sich Mutter noch mehr auf.
Der Arbeitskollege sagt: »Ich glaube, ich mache mich mal auf den Weg. Ist ja auch schon spät. Wir sehen uns dann morgen in alter Frische.«
»So leicht kann man es sich machen«, ruft Mutter aufgebracht, »aber versetz dich doch wenigstens ein einziges Mal in unsere Lage! Und begreif endlich mal, was wir alles durchmachen mussten. Wegen euch!«
»Die alten Geschichten müssen doch mal ein Ende haben«, murmelt der Angesprochene beleidigt und drückt die Türklinke herunter.
Ich springe auf und verschwinde.
Eines Nachts, als die Eltern schon längst im Bett liegen, schleiche ich noch einmal hinunter. In der Küche stehen die Gläser und Flaschen. Und es stinkt nach Zigaretten.
Ein Fotoalbum mit ledernem Einband liegt aufgeschlagen auf dem Tisch. Ich habe es noch nie zuvor gesehen. Auch nicht bei den anderen Alben im Regal im Wohnzimmer.
Neugierig beuge ich mich darüber, erkenne aber niemanden auf den Bildern. Trotzdem erscheinen mir die Männer und Frauen irgendwie vertraut. Mal schauen sie heiter, mal sehr ernst in die Kamera. Einer trägt eine Uniform.
Draußen höre ich ein Geräusch. Ich lösche rasch das Licht. Verharre im Dunkeln. Im Flur wird es kurz hell. Durch den Türspalt sehe ich meine Schwester. Sie bleibt kurz am Fuß der Treppe stehen und lauscht.

